M. Dreckmann-Nielen: Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen

Cover
Title
Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen. Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft


Author(s)
Dreckmann-Nielen, Meike
Series
Public History – Angewandte Geschichte
Extent
338 S., 1 SW- und 6 Farb-Abb.
Price
€ 29,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Rainer Huhle, Nürnberg

Die forschende Aufarbeitung des verbrecherischen Systems der „Colonia Dignidad“ war viele Jahre lang der hartnäckigen Arbeit von Dieter Maier1 und einigen wenigen Journalisten überlassen worden. Doch in den letzten Jahren hat sich die Situation geändert. Eine Reihe neuer Studien zur Colonia haben einerseits den gesamten Forschungsstand dokumentiert2, andererseits auch wesentliche Aspekte der Geschichte und Struktur im Detail erforscht.3 In diese Reihe neuerer Forschung reiht sich nun auch die bemerkenswerte Dissertation von Meike Dreckmann-Nielen ein, die sich der komplexen und widersprüchlichen Erinnerungslandschaft um die Colonia Dignidad widmet. Dankenswerterweise ist diese Arbeit – ebenso wie das Buch von Jan Stehle zum Thema – auch im Open Access erhältlich.4

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Einer substanziellen Einleitung, die unter anderem eine erfreuliche Reflexion über die oft stark wertgebundenen Bezeichnungen der Colonia und ihrer Bewohner enthält, folgt ein kurzer Abriss von Geschichte und Gegenwart der Colonia Dignidad (heute nicht weniger euphemistisch „Villa Baviera“ genannt). Im dritten Kapitel erläutert die Autorin ausführlich ihr Forschungsdesign, in dessen Zentrum der methodische Begriff der „Reflexive Grounded Theory“ steht. Diese Methode erlaubt es, von einem zunächst sehr breit formulierten Forschungsinteresse im Laufe des Prozesses durch fortwährende Rückkopplung der gefundenen Daten und Erkenntnisse das Forschungsziel ständig zu justieren. Sehr ausführlich, reflektiert und transparent beschreibt Dreckmann-Nielen im vierten Kapitel, wie sie für ihre Forschung Zugang zu den beteiligten Akteuren gefunden hat. Im letzten und längsten Kapitel präsentiert sie die „erinnerungskulturelle Vielschichtigkeit“ beziehungsweise die wesentlichen „erinnerungspolitischen Dynamiken“, die sie in der Colonia identifiziert hat. Ein Rückblick auf die Verortung ihrer empirischen Ergebnisse in die Diskussion um den Forschungsstand und ein Fazit beschließen die Studie.

Die „erinnerungspolitischen Dynamiken“, die Dreckmann-Nielen untersucht, manifestierten sich für sie schon beim Zugang zu ihren Gesprächspartner:innen in der Colonia. Diese seien sehr unsicher gewesen, wie die Forscherin einzuordnen und welche Rolle ihr zuzuschreiben sei. Die durch das Verhältnis zwischen Beobachtenden und Beobachteten entstehenden, nicht selten konfliktiven Situationen sind in der Ethnologie oft beschrieben worden. Hier aber sind sie durch die besondere Geschichte der lange Zeit unterdrückten Außenbeziehungen der Bewohner:innen der Colonia geprägt sowie die dann in kurzer Zeit in sehr widersprüchlicher Weise von ihnen geforderten Kontakte. Die Autorin scheint diese Konflikte in aller Breite erfahren zu haben, wenn sie berichtet, dass sie je nach Gesprächspartner:in und -situation als Freundin, Gegnerin, Eindringling, politische Entscheidungsträgerin, mütterliche Familienangehörige, Seelsorgerin oder Sexualtherapeutin wahrgenommen beziehungsweise interpretiert wurde. In diesen Zuschreibungen, die sich mit den Erfahrungen auch anderer externer Besucher:innen der Colonia decken, spiegelt sich zugleich die Palette an Ängsten und Erwartungen, die beim Aufbrechen des engen Erfahrungshorizonts der Bewohner:innen im hierarchischen System der Colonia zutage traten (und bis heute treten). Jede Infragestellung der Lebensformen in der Colonia, einschließlich der mit ihrem Wissen, Halbwissen oder ohne Kenntnis in der Colonia begangenen Verbrechen, ruft heftige Abwehrreaktionen hervor.

Dreckmann-Nielen beschreibt dies unter anderem eindringlich an der feindseligen Abwehr jeglicher Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte. „Die Menschenrechte sollen uns fertig machen“, zitiert sie Reaktionen der Bewohner:innen, in denen Personen, seien es die Angehörigen der in der Colonia verschwundenen Personen oder auch einfach Außenstehende, die das Thema ansprechen, gewissermaßen entpersonalisiert zum abstrakten Feindbild „Menschenrechte“ werden. Ähnliche Reaktionen erfahren auch andere Forschende, die bestimmte Aspekte, etwa die Folter im dortigen Krankenhaus oder die wirtschaftlichen Verflechtungen der Colonia untersuchen wollen, von den heftigen Reaktionen auf polizeiliche und gerichtliche Ermittlungen ganz abgesehen. Mit dieser Abwehr geht die Verklärung der eigenen Vergangenheit einher, trotz allen Leids, das viele der Bewohner:innen unter dem System des kriminellen, unumschränkten Herrschers in der Colonia, Paul Schäfer, und seiner Gehilfen erfahren haben. Der bis heute unabgeschlossene Kampf um Gedenkorte in der Colonia ist so nicht nur Schauplatz konträrer Erinnerungen, sondern auch Bühne für die stetige Reproduzierung eingeübter Abwehrmechanismen, die zum Teil tief in der Ideologie der Colonia wurzeln. Dreckmann-Nielen hebt hier besonders die „Vergebungsmaxime“ hervor, eine spezifische Interpretation des christlichen Gedankens der Vergebung, entkleidet seines Elements von Sühne und Wahrhaftigkeit. Im Gegenteil wird sie als Schweigegebot interpretiert, weil mit dem Akt der gegenseitigen Vergebung keine weitere Instanz mehr Zuständigkeit beanspruchen könne. Diese „Schweigegemeinschaft“ hat zu der weitgehenden Straflosigkeit der begangenen Verbrechen in der Colonia beigetragen.

Am Beispiel der Initiativen, aus der Colonia ein Touristenzentrum zu machen, symbolisch durch die Namensänderung in „Villa Baviera“ manifestiert, zeigt Dreckmann-Nielen die Dynamiken auf, die durch die damit verbundene Öffnung nach außen in Gang kommen. Wie sie erläutert, kann die Initiative für ein Restaurant mitten im Siedlungskern der Colonia auf eine These der ersten in der Colonia tätigen Psychiater zurückgeführt werden, die meinten, dass eine Therapie im geschlossenen Rahmen der Colonia nicht mehr weiter führe und daher eine Öffnung nach außen befürworteten, die dann in Gestalt des Tourismusangebots erfolgte. Die Autorin beschreibt in einem längeren Abschnitt diese psychiatrischen Interventionen und den Versuch, durch die touristische Öffnung die konfliktiven und verhärteten Strukturen innerhalb der Bewohnerschaft aufzubrechen. Sie deutet zudem an, dass ein anderer Effekt dieser Entwicklung auch gewesen sein könnte, dass die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten die bestehenden hierarchischen Strukturen und intransparenten wirtschaftlichen Beziehungen gerade stärkten. Dies wiederum habe dazu geführt, den Druck von der Gemeinschaft zu nehmen, sich der dunklen Vergangenheit der Gemeinschaft zu stellen. Zugleich befeuerte das durchaus erfolgreiche Tourismuskonzept voller unbekümmerter „bayerischer“ Folklore die Konfrontation mit den Angehörigen insbesondere der chilenischen Opfer der Colonia, die darin eine Verhöhnung ihres Leids sehen und gegen diese Projekte protestieren. Innerhalb der noch auf dem Gelände wohnenden ehemaligen Mitglieder der Colonia verwischte der neue wirtschaftliche Ansatz die Klärung der Fragen nach der Schuld sowie nach dem Verhältnis von Täter:innen und Opfern, zumal gleichzeitig die gerichtlichen Untersuchungen kaum vorankamen. Der durch die „Vergebungsmaxime“ ohnehin geprägte und durch die komplexen Täter/Opfer-Überlagerungen weiter geförderte Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen und den Blick nur nach vorn zu richten, erhielt durch das Tourismusprojekt deutlich Auftrieb.

Diese verschiedenen internen und externen Konfliktebenen bündeln sich gewissermaßen in den kontroversen Diskussionen um die Gestaltung eines Erinnerungsorts, die Dreckmann-Nielen im letzten Abschnitt des großen fünften Kapitels entfaltet. In den Verhandlungen zwischen der deutschen und der chilenischen Regierung stand die Schaffung eines Gedenkortes und eines Dokumentationszentrums im Zentrum – während etwa die Strafverfolgung von justizflüchtigen Tätern oder die Aufklärung der wirtschaftlichen Verflechtungen des Vermögens der Colonia keine intensive Bearbeitung erfuhren. Seit 2019 liegt ein Konzept für eine Gedenkstätte einer gemischten deutsch-chilenischen Expert:innenkommission vor. Zahlreiche Diskussionen mit den verschiedenen Betroffenengruppen und außenstehenden Expert:innen waren dem über mehrere Jahre vorangegangen. Trotz dieses Expertenkonzepts ist es bis heute nicht zu einem Konsens zwischen den Betroffenengruppen gekommen. Dreckmann-Nielen zeigt sehr anschaulich, dass dies nicht nur mit der von vielen Erinnerungsorten bekannten Konkurrenz der Opfer zu erklären ist. Im Fall der Colonia stehen vielmehr klar formulierte und im Kontext eines internationalen Menschenrechtsverständnisses begründete Forderungen der Angehörigen der chilenischen Opfer der Diktatur einer Abwehr zahlreicher Bewohner:innen der Colonia gegenüber, die nicht nur von der Verteidigung ihrer eigenen Opferrolle geprägt sind, die ihre Verwicklung in die Täterschaft der Colonia meist ausblendet. Wie Dreckmann-Nielen zeigt, ist es die Forderung nach Erinnerung selbst, die bei vielen Bewohner:innen Blockaden auslöst, weil sie mit der Rolle der Colonia als Tatort und ihrer eigenen Geschichte als Opfer des repressiven Systems der Colonia und zumindest kollektiv auch Mitbeteiligte an diesem System nicht zurechtkommen. Ein Ort der Erinnerung ist daher, abgesehen vom Streit um dessen inhaltliche Schwerpunktsetzung, schon an sich eine Provokation, denn das ganze Konzept der Neuausrichtung der Colonia als Ort touristischer und landwirtschaftlicher Entwicklung ist auf eine bessere Zukunft ausgerichtet. Wie eine von der Autorin interviewte Bewohnerin formuliert, führe das Bestehen auf einen Gedenkort dazu, dass „einem die Hände ziemlich gebunden sind“. Man wolle doch „vergrößern, was Neues machen […] was wirklich jetzt vorwärts“. Gerade in diesem letzten Abschnitt gelingt es der Autorin besonders gut, die komplexe Mischung aus diffusen Schuldgefühlen, dem Bestehen auf der eigenen Opferrolle und damit der Abwehr der Ansprüche der Angehörigen der chilenischen Verschwundenen als etwas Fremdem, nicht zur Colonia Gehörendem sowie letztlich einem Unverständnis über die Rolle der Führungsriege der Colonia, die all dies sehr wohl zusammenzubringen wusste, herauszuarbeiten. Insofern trägt Meike Dreckmann-Nielens Studie „Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen“ Wesentliches zu unserem Verständnis der Colonia Dignidad und des zähen Weiterlebens der in ihr gesäten Konflikte bei.

Anmerkungen:
1 Vgl. zum Beispiel Friedrich Paul Heller, Colonia Dignidad: von der Psychosekte zum Folterlager, Stuttgart 1993; Friedrich Paul Heller, Lederhosen, Dutt und Giftgas. Die Hintergründe der Colonia Dignidad, Stuttgart 2011; Dieter Maier, Colonia Dignidad. Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile. Stuttgart 2016; Dieter Maier / Luis Narváez, Kartei des Terrors. Notizen zum Innenleben der chilenischen Militärdiktatur (1973–1990) aus der Colonia Dignidad, Stuttgart 2022.
2 Jan Stehle, Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020, Bielefeld 2021, https://www.transcript-open.de/isbn/5871 (27.02.2024).
3 Stefan Rinke / Philipp Kandler / Dorothee Wein (Hrsg.), Colonia Dignidad. Neue Debatten und interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main 2023; Karina Carrasco Jeldres / Evelyn Hevia Jordán / Philipp Kandler / Rodrigo Núñez Poblete (Hrsg.), Archivo, testimonio y huella. Aproximaciones interdisciplinares a Colonia Dignidad, Santiago 2023. Siehe auch das an der Freien Universität Berlin angesiedelte Projekt „Colonia Dignidad – Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv“, abrufbar unter https://www.cdoh.net/ (27.02.2024).
4 Vgl. https://www.transcript-open.de/isbn/6213 (27.02.2024).

Editors Information
Published on
Author(s)
Contributor
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review